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Erinnerungen in die Zukunft

Reflexion über den kreativ-biografischen Schreibworkshop „Lebenswege" mit Teilnehmern aus dem Netzwerk von nestwärme e.V. Deutschland, Trier


Vom ersten Moment an haben mich die Brown Sisters ergriffen, wie eine Hand, die einen Ball umschließt: 40 Schwarz-Weiß-Fotos von vier Frauen, die mit jedem Bild ein Jahr älter werden. Ganz langsam. Unaufhaltsam. Fotografiert hat sie Nicholas Nixon, der Ehemann der Ältesten. Das erste entstand 1975 – da war Heather 23, Mimi 15, Beverly 25 und Laurie 21 -, das letzte 2004. Immer in der gleichen Reihenfolge sind die Schwestern zu sehen, jedes Foto repräsentiert ein Jahr. 40 Fotos, in denen die Spur der Zeit erst unmerklich, aber dann irgendwann doch unerbittlich ihren Abdruck hinterlässt, wie ein wiederholter Biss, der nicht mehr verblassen kann. Jedes Mal bin ich aufs Neue erstaunt, wann genau diese Veränderung startet, wann genau sie passiert sein mag, und blättere vor und zurück auf der Suche nach dem entscheidenden Jahr. Das es nicht gibt. Oder mir entgeht.

40 Jahre Schwesternschaft. Nähe, die wächst. Umarmungen, die enger werden. Was haben sie erlebt? Was ist geschehen in den Lücken zwischen den Aufnahmen? Ich weiß es nicht, und doch ist unübersehbar etwas passiert: Leben hat statt gefunden und spiegelt sich in den Augen und Mündern, der Haut, den Figuren, ja der Mode. Doch über allem Vergänglichen steht für mich etwas sehr Tröstliches, das niemals verblasst: die Schönheit dieser Frauen. In ihrem puren Sein. Im Älterwerden.

In meinem Schreibworkshop „Lebenswege – Erinnerungen in die Zukunft“ habe ich die Brown Sisters deshalb dazu geholt. Rund 15 repräsentative Fotografien erzählen stumm von ihrem Weg und werfen Fragen bei den Teilnehmern auf: nach dem „Wie altern?“ Nach dem Verlust der Jugend. Und ja, auch nach dem Tod, der unvermeidbar näher rückt. Sie repräsentieren Lebensthemen: Geschwisterschaft. Verbundenheit. Liebe. Schönheit. Und sie laden zur schreibenden Reflexion darüber ein.


Textimpulse durch Gedichte von Herman Hesse, Rainer-Marie Rilke und Mascha Kaléko bieten hierfür Stufen, Ringe und Wegweiser zur eigenen Sprachfindung. Zu Worten, die das Schauen und Empfinden in ein Kleid packen, und ihnen eine Gestalt geben. Es sind berührende, tief gehende, poetische, schmerzhafte, heilsame Worte, die ihren Weg vom Kopf über die Hand auf das Papier finden. Sie tragen die Gemeinschaft der Schreibenden und öffnen die Tür, Empfindungen zuzulassen und anzunehmen. Die Brown Sisters halten uns einen Spiegel vor unsere eigenen Bilder im Fluss der Jahre und wir begegnen uns darin selbst.

Wir legen nun unsere eigene Lebensspur aus Ereignissen und Fotografien, die die Teilnehmer mitgebracht haben. Zeugnisse vergangener Momente, Schnappschüsse, die beim Betrachten ihre Signifikanz zurück gewinnen, weil sie exemplarisch für ein wichtiges Lebensthema stehen: die Beziehung zu sich selbst, dem kleinen Kind in uns. Zu den geliebten Eltern und der eigenen Elternschaft. Zur existentiellen Verbindung mit den Geschwistern. Zu schmerzhaften Verlusten, die uns nicht verschonten. Aber auch zu vollen, glücklichen Ereignissen unserer Kindheit, Jugend und Erwachsenenalters, die das Leben in der Waage halten. Die uns bis heute stärken, wenn wir uns nur an sie erinnern und uns ihnen bewusst gewahr werden: „Ja, das war doch auch!“

Wir erstellen und gestalten ein „Lebens-Album“ mit diesen Fotos und gehen schreibend in eine Auseinandersetzung mit ihnen als Repräsentanzen. Versöhnlich. Verstehend. Schonunglos. Im Prozess des Schreibens vollzieht sich ein Dialog mit dem inneren Erleben und ein Erkenntnisgewinn, der sich heilsam über den eigenen Lebensweg legt. Ein Album, das mehr ist als seine eingeklebten Fotografien. Es atment in jedem Blatt und jedem Wort Erinnerungen aus der Vergangenheit hinein in eine Zukunft, die nicht umkehren will, sondern weiß, woher sie kommt und wer sie ist.

Im Jetzt.



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